Mehr als 15 Jahre war der 64-Jährige Vorstandschef der Baugenossenschaft, jetzt ist Schluss / Zeit für eine Bilanz
KREIS GROSS-GERAU. So ganz kann man sich die Baugenossenschaft Ried ohne Jürgen Unger (64) noch nicht vorstellen. Mehr als 15 Jahre hat er die Genossenschaft als Vorstandsvorsitzender geleitet und nach außen vertreten, sie nach turbulenten Zeiten wieder in ruhige Fahrwasser geführt. Zum Jahresende aber ist Schluss: „Irgendwann muss man loslassen“, sagt er. Andere hätten jetzt mehr Zukunft. Und die sollten
sie auch gestalten. Wer mit Jürgen Unger spricht, hat allerdings nicht den Eindruck, dass da jemand die Ta ge bis zum Ruhestand zählt – ganz im Gegenteil. Bezahlbaren Wohnraum für möglichst viele Menschen zu schaffen, die Mieten möglichst am unteren Ende der Skala zu halten: Das war und
ist ihm ein Anliegen. Zugleich schwärmt er vom Genossenschaftsmodell, das Monarchie, NS-Diktatur und Kommunismus überlebt habe. „Wir müssen keine Renditen für Kapitalinhaber erwirtschaften, sondern arbeiten für unsere Mitglieder.“
Sanieren und konsolidieren hieß es zunächst
Dass Unger bei der BG Ried gelandet ist, war eher Zufall. Aufgewachsen in Bischofsheim, hat er 1979 an der Prälat-Diehl-Schule in Groß-Gerau Abitur gemacht. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre und der Bundeswehrzeit heuerte er 1986 beim Getränkehersteller Peter Eckes AG in Nieder-Olm an. 1991 stieg er ins Möbelhaus seiner Familie ein, das durch Zukäufe im Lauf der Zeit zum Küchenhaus umfirmiert wurde. Sein Bruder betreibt heute noch ein Küchenstudio. Für Jürgen Unger aber stellte sich mit 47 Jahren die Frage: Will ich das bis ans Ende meines Berufslebens machen,
oder suche ich mir eine neue Herausforderung? Unger entschied sich für die zweite Variante, bewarb sich 2007 auf die Stelle eines kaufmännischen
Leiters bei einer Baugenossenschaft im Rhein-Main-Gebiet. „Ich wusste nicht einmal, dass es die Ried war.“ Unger überzeugte, bekam den Posten.
Die BG Ried befand sich zu der Zeit in Turbulenzen. Der damalige Vorstandsvorsitzende wollte das große Rad drehen, investierte in eine Seniorenwohnanlage im Frankfurter Rebstock. Aus heutiger Sicht würde man über eine Baukostensteigerung von 29 auf 34 Millionen Euro vielleicht
lächeln. In den 2000erJahren aber brachte es die BG Ried in massive Schwierigkeiten. Zeitweise stand es Spitz auf Knopf, der Vorstandschef musste den Hut nehmen. Schließlich wurde Unger am 22. Oktober 2008 in den Vorstand berufen. Danach gedrängt habe er sich nicht, machte der heutige
Aufsichtsratsvorsitzende Kai Kienzl bei der Verabschiedung deutlich. Mit der Zeit aber fand Unger Gefallen an der Aufgabe. In den ersten Jahren hieß es für ihn, die 1948 gegründete Genossenschaft mit Sitz in Groß-Gerau zu sanieren und konsolidieren. Später versetzte die Veräußerung von fast 200 Eigentumsobjekten (darunter die Anlage am Rebstock, die letztlich sogar Gewinn brachte) die BG Ried in die Lage, 2016 ein Wachstumsprogramm aufzulegen. Bis 2028 wollte man 3000 Wohnungen im Bestand haben. Zu den großen Bauprojekten gehörten „Wohnen am Park“ in Groß-Gerau (125 Wohneinheiten) und „Wohnen am Rhein“ in Biebesheim (133), aber auch das Theodor-Heuss-Karree in Bischofsheim (70) oder der Quartiersplatz in Gernsheim (38). „Fast alles, was ich mit angestoßen habe, ist umgesetzt“, sagt Unger. Auch deshalb könne er die Geschäfte guten Gewissens übergeben. Zufrieden kann Unger auf seine Bilanz blicken. Waren 2007 insgesamt 2372 Objekte im Besitz der BG Ried, bis Mai 2025 werden es 2640 sein (darunter mehr als 750 öffentlich geförderte). Das Eigenkapital stieg von 23,2 auf 62,5 Millionen Euro, die Genossenschaft fährt wieder Gewinne ein und erfreut auch ihre rund 3300 Mitglieder mit Ausschüttungen. In der Ära Unger wurden rund 580 Wohnungen neu gebaut, die zum Teil ältere Objekte ersetzten.
Dass in Sachen Wachstumskurs etwas Tempo rausgenommen wurde, liegt an massiv gestiegenen Baukosten und Zinsen. Die Ried müsse zwar keine übertriebenen Renditeerwartungen erfüllen, aber doch rechnen. Quadratmeterpreise von 15 Euro bringe er nicht mit einer Genossenschaft zusammen, zumal sich die Frage stelle, ob das dann auch nachhaltig vermietbar sei. Daher investiere man nun verstärkt in die Sanierung des Bestands. In der Zukunft sieht Unger einige Herausforderungen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Insbesondere in puncto Barrierefreiheit gebe es viel zu tun. „Wir müssen den Anspruch haben, dass unsere Mieter möglichst lange in ihren Wohnungen bleiben können.“ Oft sei es fehlende Mobilität, die Menschen ins Pflegeheim bringe. In Neubauten gebe es Aufzüge. Wie aber kommen Ältere andernorts in den vierten Stock? „Da müssen wir uns Gedanken machen“, findet Unger. Das gelte auch für Wohnungsgrößen. Manche Fachkräfte und Senioren suchten eher kleine Wohnungen. Damit befassen dürfen sich Ungers Nachfolger. Der frühere Nauheimer Bürgermeister Jan Fischer (Jahrgang 1978) wurde zum 1. Oktober 2024 in den Vorstand berufen, zum 1. Februar 2025 soll Christian Müller als Technischer Vorstand folgen. Jürgen Unger, der seit 1988 verheiratet ist und mit seiner Frau drei erwachsene Kinder im Alter von 28, 30 und 32 Jahren hat, will sich in Zukunft mehr Zeit für Sport (vor allem Radfahren und Laufen) nehmen, außerdem reist das in Klein-Gerau lebende Paar gern. Ansonsten hat er sich erst mal eine Art „Sabbatical“ verschrieben. „Ich will mir
im nächsten Jahr in Ruhe überlegen, wo ich mich noch engagieren möchte.“ Eines verrät er aber doch schon: 2026 würde er gern für die Vertreterversammlung der BG Ried kandidieren. „Es muss aber keiner Angst haben, dass es permanent Ratschläge von der Seitenlinie geben wird.“ So ganz ohne BG Ried: Das ist auch für Jürgen Unger nur schwer vorstellbar.
KOMMENTAR Von Jörg Monzheimer
Jürgen Unger:
Ein Glücksfall für die BG Ried
Wie gut ein Vorstandschef agiert hat, lässt sich häufig erst im Rückblick sagen. Manch ein gefeierter Börsenstar wurde erst gehypt, um nicht lange danach eine harte Bauchlandung hinzulegen. Daher sind Elogen mit Vorsicht zu genießen. Dennoch gibt es Fälle, in denen sie angebracht sind. Ein solcher ist der von Jürgen Unger (64).
2008 hat er den Vorstandsvorsitz bei der Baugenossenschaft Ried in der wohl kritischsten Phase seit ihrer Gründung 1948 übernommen. Es fehlte damals nicht viel, und die Lichter wären ausgegangen. Mit Beharrlichkeit hat er die Genossenschaft gemeinsam mit den Aufsichtsratsvorsitzenden
Horst Gölzenleuchter und Kai Kienzl wieder konsolidiert, alte Zöpfe abgeschnitten und die BG Ried auf Zukunfts- und Wachstumskurs gebracht. Sich in den Vordergrund zu drängen, war nie sein Ding, solides und hartes Arbeiten dafür umso mehr. Dass die BG Ried heute in vielen Rathäusern als erster Ansprechpartner gilt, wenn es um die Entwicklung von Wohnprojekten geht, sie wieder als verlässlicher Partner wahrgenommen wird, ist das Verdienst von Jürgen Unger, der nun bald ein gut bestelltes Haus übergibt. Bei der BG Ried hat er eine Ära geprägt – mit seiner zupackenden und zugewandten
Art war er ein Glücksfall für die Genossenschaft.
Presseartikel Groß-Gerauer Echo vom 16.12.2024 von Jörg Monzheimer